Mal di Levante
In seinem Essay "Mal
di Levante" versucht Franco Cassano,
Soziologieprofessor an der Universität Bari, die Mentalität
seiner Stadt von ihren historischen Wurzeln her zu erklären. Trotz
deutlicher Gegenwartskritik sind die Ausführungen des Autors von
liebevoller Besorgnis geprägt, von einer Heimatverbundenheit, die
sich politisch versteht und daher in die Belange der Stadt eingreifen
will. Daraus ergibt sich eine reizvolle Spannung zwischen analytisch-kritischen
und eher poetischen Passagen. Ausgewählt habe ich den Text zum einen
als Sachbuch-Sample mit literarischem Einschlag, zum anderen aufgrund
freundschaftlicher Verbindungen nach Bari. Statt' bun!
Übersetzung und Wiedergabe des Originals mit
freundlicher Genehmigung – per gentile concessione dell'autore.
Es ist nicht schwer zu begreifen, warum Bari nach Jahrzehnten des Aufstiegs
in sich zusammenfällt und warum das erst jetzt geschieht.
Vielleicht müssen schon die geraden Linien von Land und Meer als
eine Art Vorzeichen gelten, das völlige Fehlen von Dramatik, das
diese Landschaft ausmacht. Nichts erinnert hier an das harte Sonnenlicht
von Palermo oder die bedrohlich überschattete Anmut Neapels. Von
Anfang an hat dieser Ort nichts Überflüssiges: Geschwungene
Linien darf es nicht geben, Sanftheit und Hingabe fehlen; es herrscht
Angst vor Umwegen und Komplikationen, man kommt sofort zur Sache, gerade
als träfen sich Land und Meer zum Geschäftstermin. Vergebens
sucht das Auge nach Verzierungen, man zeigt sich ungeduldig gegenüber
Dingen und Menschen, die sich nicht umgehend auf einen einfachen und praktikablen
Nenner bringen lassen.
Die Identität Baris beginnt mit einer doppelten Abwehrgeste, die
aus dieser Ungeduld hervorgeht. In einer ihrer beiden Spielarten richtet
sie sich gegen die Hauptstadt des Königreichs der zwei Sizilien,
also gegen das parasitäre, nichtsnutzige Neapel. Sie beruht auf der
Überzeugung, provinzielle Unbedarftheit lasse sich in einen Vorteil
ummünzen, indem man sich kraft der eigenen Dynamik von anderen absetzt
– und dieser Gedanke betrifft gleichermaßen die zweite Front,
an der man sich gegen die Rückständigkeit der cafoni,
der "Bauerntölpel" wendet. Am Anfang steht somit der Entwurf
einer modernen und aufstrebenden Identität, einer Stadt mit Unternehmergeist.
Demnach käme Bari eine besondere Aufgabe zu, die Rolle eines Anti-Neapel,
das sich nicht über einen Hof, eine intellektuelle Elite und eine
Masse von einfachen Leuten definiert, sondern als Ort von Kaufleuten,
aufgeweckten Machern mit einem ausgeprägten und sicheren Geschäftssinn.
Diese Ungeduld, dieses Streben nach vorne ist die Levante, ein Drang aufs
Mittelmeer, der mehr nach Osten als nach Westen oder Süden blickt.
Man orientiert sich zur Adria, einem übersichtlichen Meer, um zunächst
die gegenüberliegende Küste anzusteuern und dann immer weiter
in den Mittleren Osten vorzudringen.
Bari, Stadt der Emporkömmlinge, richtet seinen Blick also gen Orient
und verweigert sich damit Neapel wie auch dem Landesinneren: Es sucht
ein anderes Meer, einen anderen Horizont, ein anderes Schicksal. Der Verführung
des Orients aber entzieht sich der Barese, jeglicher Faszination abhold,
ein Odysseus, der keiner Selbstfesselung bedarf, um dem Gesang der Sirenen
zu widerstehen.
[In der Folge kritisiert Cassano die mangelnde
Konsequenz einer Haltung, die das Levantinische auf seine merkantilen
Aspekte reduzieren will, anstatt sich von der Weite des Ostens bezaubern
zu lassen: von einem Austausch nicht nur von Waren, sondern auch von Geschichten
und Sehnsüchten.]
[...]
Im Grunde liegt Baris wahre Identität seit jeher in einer eigentümlichen
Mischung kontrastierender Selbstbilder. Die Einwohner von Bari haben schon
immer ihre "Modernität" übertrieben hoch gehängt,
doch war diese Übertreibung weniger ein Betrug als die Schönfärberei
des Kaufmanns, eine gutartige List, zugleich Anpreisen der eigenen Ware
und Ausdruck von Verachtung gegenüber der Apathie, den tausend Gesichtern
der Resignation. Das Hochjubeln von Dingen, die eine reale Grundlage besaßen,
das Erbitten von Zeit und Mitteln, um die Kluft zwischen Anspruch und
Wirklichkeit zu überbrücken, diese Verhaltensweisen markierten
in all ihrer Zwiespältigkeit doch auch eine Besonderheit.
Doch in den letzten Jahren ist dieses widersprüchliche Gleichgewicht
verloren gegangen, und der beanspruchte Sonderstatus erscheint nunmehr
unglaubwürdig.
[...]
Oft blicken jene, die der Barese für sich gewinnen will, amüsiert
bis schockiert auf diesen provinziellen, ordinären, doch auch vitalen
und handfesten Parvenü - und da ist wieder die alte Herablassung
der Arrivierten gegenüber dem, der in der ganzen Härte des Aufstiegskampfes
seine Ellebogen einsetzt. Doch eben diese Rücksichtslosigkeit, dieses
Fehlen von Feinheit und Sensibilität haben die Einwohner Baris in
die Lage versetzt, Selbstzweifel zu überwinden, sich lähmenden
Minderwertigkeitskomplexen nicht hinzugeben. Diese Eigenschaften retten
sie vor der Gefahr des Rückzugs in sich selbst, die jedem Provinzbewohner
droht. Baresische Dreistigkeit ist also ein positiver Zug gewesen, eine
Stärke. Aber sie erweist sich in dem Augenblick als Hindernis, da
der Aufstieg langfristigen Nutzen stiften soll, Nutzen für die Allgemeinheit
– wenn es darum geht, einen weiten Begriff von 'Reichtum' zu entwerfen,
in dem die Schönheit und die Phantasie Platz finden, die Leidenschaft
für ein Ideal, die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Wenn die Fähigkeit
gefragt ist, sich einer Sache hinzugeben, die man weder sehen noch berühren
kann, die für die Menschen aber trotzdem da ist und ihnen etwas bedeutet.
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