Tales (Reprise)

Die folgende Episode berichtet der Pianist und Keyboarder Joe Sample auf Marcus Millers Album Tales von 1995. Beim Übersetzen besteht die Herausforderung (neben den üblichen Verdächtigen aus Umgangssprache und Black American English) primär darin, die Oralität einer solchen Erzählung – die Präsenz von Samples Stimme, seine Sprechpausen, das durchlaufende Bassmuster – in etwas zu verwandeln, das gelesen werden kann.

Ich danke Marcus Miller und Bibi Green für ihre freundliche Genehmigung, den Text hier wiederzugeben. Eine Menge interessanter Informationen über diesen Weltklassebassisten finden sich auf der von ihm unterstützten Fan-Website www.marcusmiller.com.

"Es ist das Jahr 1954 oder 55. Ich bin also fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Wir befinden uns in einem Schuppen mit Bühne irgendwo an der Grenze zwischen Ost-Texas und Louisiana – tiefstes Sugar Cane Country, etwa 200 Meilen weit von meiner Heimatstadt Houston. Ich bin Pianist in einer Band, der typischen Haus- oder Tourband: einer zusammengewürfelten Band. Provinznester. Und dazu Bluesmusiker wie Gatemouth Brown, T-Bone Walker, Big Walter, Little Walter, Johnny Copeland, Percy Mayfield oder sonst irgendeiner von den Künstlern, die eben damals im Rampenlicht standen. In der Regel spielte die Band einen Set zum Aufwärmen, und dann – was sonst – kam der Sänger auf die Bühne und es ging richtig los.

Natürlich war für uns Jazz das Größte. Wir gaben weiß Gott was dafür, Jazz spielen zu können, und zwangen den Rhythm-and-Blues-Nummern unseren Jazzstil auf. Plötzlich sehe ich, wie sich ein paar Männer aus dem hinteren Teil der Scheune auf den Weg nach vorn machen. Einer von ihnen pflanzt sich vor mir auf und sagt: 'Jetzt sperrt mal die Ohren auf, ihr Penner. Wir sind hier, um uns zu amüsieren, und wir haben dafür 25 Cent Eintritt bezahlt. Mir kommt's aber so vor, wie wenn ihr nur Mist spielt, und das ist unser Geld nicht wert. Also passt mal gut auf. Wenn ihr so weitermacht, nehmen wir euch die Instrumente weg, prügeln euch windelweich und zerlegen eure Autos in ihre Einzelteile, und ihr könnt euch dann zu Fuß auf den Heimweg machen und euch bis Houston durchbetteln. So sieht's aus – außer, ihr sorgt hier mal richtig für Stimmung, und zwar zack zack!'

Nun, eine wirksamere Methode gibt es kaum, um zu lernen, was Groove bedeutet. Ich jedenfalls wurde auf der Stelle zum Groove-Meister, und meine Kollegen auf der Bühne ebenso. Dies ist eine Entwicklungsgeschichte aus dem Grenzgebiet zwischen Texas und Louisiana."


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