1955 – also vor genau fünzig Jahren – veröffentlichte der Journalist Milton Mayer seine Studie They Thought They Were Free. The Germans 1933-1945, das Ergebnis einer Art Feldforschung im Nachkriegsdeutschland. Während eines einjährigen Aufenthalts als Gastprofessor hatte Mayer das Gespräch mit Menschen gesucht, die zu einem Großteil dem einfachen Volk zuzurechnen waren –"my ten Nazi friends", wie der Autor (selbst deutschstämmiger Jude) sie rückblickend und in aller Zwiespältigkeit nennen würde. Das Ziel seiner Bemühungen: das nationalsozialistische Regime so weit wie möglich von innen und von unten zu verstehen.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dürfte Mayers engagierte und bei aller Subjektivität oft hellsichtige Faschismusanalyse eigentlich bahnbrechend gewesen sein. Dass eine deutsche Übersetzung unterblieb, zeugt von geringem Interesse an einer Aufarbeitung der NS-Diktatur in den Aufbaujahren.

In den USA wird dem 1986 verstorbenen Mayer derzeit neue Aufmerksamkeit zuteil – Bürgerrechtsaktivisten, die in seinem Buch erschreckende Parallelen zu gegenwärtigen Tendenzen in ihrem Land erkennen, gilt er als mahnende Stimme.* Sie beziehen sich dabei häufig auf das nachfolgend wiedergegebene Kapitel 13 von They Thought They Were Free, worin das allmähliche Vordringen des totalitären Staates aus Sicht eines Mitläufers beschrieben wird.


* (Den ersten Hinweis darauf verdanke ich dem Programmierer Jerry Krinock.)


Mit freundlicher Genehmigung der University of Chicago Press.


Doch dann war es zu spät


"Was keinem aufzufallen schien", sagte ein Kollege von mir, ein Philologe, "das war die Kluft zwischen Regierung und Volk, die sich nach 1933 immer weiter auftat. Sie müssen bedenken, wie breit diese Kluft bei uns in Deutschland ohnehin schon war. Und sie verbreiterte sich immer mehr. Wissen Sie, dass man gesagt bekommt, man habe eine Regierung des Volkes, eine echte Demokratie, dass man am Zivilschutz teilnimmt und selbst dass man wählen geht, das bringt ein Volk seiner Regierung nicht näher. Zu wissen, dass man das Sagen hat, ist etwas völlig anderes.

Es ging wie folgt vor sich: Die Leute gewöhnten sich langsam, Schritt für Schritt daran, von Regierungsentscheidungen überrumpelt zu werden und von Beschlüssen Kenntnis zu nehmen, die im Geheimen gefasst wurden. Sie gewöhnten sich daran zu glauben, die Lage sei so verzwickt, dass die Regierung sich auf Informationen stützen müsse, die das Volk nicht versteht, oder sie sei so gefährlich, dass, selbst wenn das Volk die Informationen verstehen könnte, man sie aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht freigeben dürfte. Die Identifikation der Leute mit Hitler, ihr Vertrauen in ihn, machten es leichter, die Kluft zu verbreitern, und sie dienten zur Beruhigung jener, die sich andernfalls vielleicht Gedanken gemacht hätten.

Diese Distanzierung der Regierung vom Volk, diese Verbreiterung der Kluft, ging ganz allmählich und ganz unmerklich vor sich. Jeder Schritt trat – vielleicht nicht einmal absichtsvoll – im Gewand einer vorübergehenden Sondermaßnahme auf oder als Akt patriotischer Gesinnung oder auch im Zusammenhang mit echten sozialreformerischen Bestrebungen. Und all die Krisen und Reformen – es waren auch wirkliche Reformen dabei – hielten das Volk so in Atem, dass es die langsame Bewegung darunter nicht bemerkte, den Gesamtprozess einer zunehmenden Distanzierung der Regierung.

Sie werden sicher begreifen, wenn ich Ihnen sage, dass Mittelhochdeutsch mein Ein und Alles war. Nichts lag mir so am Herzen. Ich war ein Gelehrter, ein Fachmann. Doch in dem Maß, in dem die Universität in die neue Lage hineingezogen wurde, sah ich mich plötzlich in allerlei neue Aktivitäten verwickelt: Besprechungen, Konferenzen, Einstellungsgespräche, Festakte und vor allem Formulare, die man ausfüllen musste, Berichte, Bibliographien, Listen und Fragebögen. Dazu kamen noch die Anforderungen der Gemeinschaft, eine Unzahl von Anlässen, an denen man teilnehmen musste – es 'wurde erwartet', dass man teilnahm. All das hatte es vorher nicht gegeben, oder es war nicht von Bedeutung gewesen. Natürlich war das alles Humbug, doch es verbrauchte sämtliche Energie und überlagerte die Arbeit, der man sich eigentlich widmen wollte. Sie sehen also, wie leicht es damals war, sich keine Gedanken über Grundsätzliches zu machen. Man hatte einfach keine Zeit dazu."

"Genau das", sagte ich, "hat auch mein Freund, der Bäcker gesagt. Man hatte keine Zeit zum Nachdenken. Es war einfach zu viel los."

"Ihr Freund, der Bäcker, hat Recht", erwiderte mein Kollege. "Das Regime war in seinem gesamten Entstehungsprozess in erster Linie eine enorme Ablenkung. Es bot Menschen, die ohnehin nicht denken wollten, eine willkommene Ausrede. Damit meine ich nicht Ihre 'kleinen Leute', Ihren Bäcker und seinesgleichen. Ich spreche von meinen Kollegen und mir selbst, gebildeten Menschen wohlgemerkt. Die meisten von uns wollten sich keine Gedanken über Grundsätzliches machen und hatten das auch nie getan. Es bestand keine Notwendigkeit dazu. Der Nationalsozialismus konfrontierte uns mit einigen schrecklichen, sehr grundsätzlichen Fragen – wir waren schließlich anständige Menschen –, doch gleichzeitig sorgte er mit seinen ständigen Veränderungen und 'Krisen' für einen solchen Trubel und eine derartige Faszination, ja, eine Faszination angesichts der Machenschaften der 'Volksfeinde' im In- und Ausland, dass uns keine Zeit blieb, über das Schreckliche nachzudenken, das um uns herum ganz allmählich wuchs. Unbewusst waren wir wahrscheinlich dankbar dafür. Wer will sich schon den Kopf zerbrechen?

Diesen Prozess durchleben, heißt völlig außerstande sein, ihn zu bemerken, das müssen Sie mir glauben, es sei denn, man verfügt über ein viel höheres Maß an politischem Bewusstsein und Weitblick, als die meisten von uns jemals entwickeln konnten. Jeder Schritt war so klein, so folgenlos, so wohlbegründet oder auch von so geschicktem 'Bedauern' begleitet, dass man ohne eine grundsätzliche Einsicht in die Situation, ohne ein Verständnis davon, wozu all die 'kleinen Maßnahmen', gegen die ein 'deutscher Patriot' doch nichts einwenden konnte, eines Tages führen mussten – dass man also von der tagtäglichen Entwicklung genauso wenig mitbekam, wie ein Bauer auf dem Feld sein Korn wachsen sieht. Eines Tages ist es ihm dann über den Kopf gewachsen.

Wie lässt sich so etwas unter normalen Menschen verhindern, selbst wenn sie hochgebildet sind? Offen gestanden, weiß ich es nicht. Es ist mir bis heute nicht klar. Seit das alles geschehen ist, habe ich so manches Mal über das große Paar von Maximen gegrübelt, Principiis obsta und Finem respice – 'Wehre den Anfängen' und 'Bedenke das Ende'. Aber um den Anfängen wehren oder sie auch nur erkennen zu können, muss man das Ende vorhersehen. Man muss das Ende klar und deutlich voraussehen, und wie soll das gewöhnlichen oder auch außergewöhnlichen Menschen möglich sein? Es hätte sich hier doch etwas ändern können, bevor es zu weit ging; so war es nicht, aber es hätte so sein können. Und jeder setzt auf diese Möglichkeit.

Ihre 'kleinen Leute', Ihre Nazifreunde, hatten grundsätzlich nichts gegen den Nationalsozialismus. Leute wie ich, für die das sehr wohl galt, waren und sind die größeren Verbrecher, nicht, weil wir es besser gewusst hätten, das wäre zu viel gesagt, sondern weil wir es besser spürten. Pastor Niemöller sprach für Tausende und Abertausende Leute wie mich, als er viel zu bescheiden von sich selbst sagte, als die Nazis die Kommunisten angegriffen hätten, habe ihm das nicht so ganz gepasst, aber schließlich sei er kein Kommunist gewesen, also habe er nichts unternommen. Dann hätten sie sich gegen die Sozialisten gewandt, und das habe ihm auch nicht so recht gefallen, aber er war ja auch kein Sozialist und habe daher nichts unternommen. Dann waren die Schulen dran, die Presse, die Juden und so weiter, und es gefiel ihm immer weniger, aber er unternahm noch immer nichts. Und schließlich nahmen sie die Kirche ins Visier, und er war Geistlicher und unternahm etwas – doch dann war es zu spät."

"Ja", sagte ich.

"Sehen Sie", fuhr mein Kollege fort, "man weiß nicht, wann genau oder wie man eingreifen soll. Glauben Sie mir, das ist so. Jede Handlung, jeder Anlass ist schlimmer als die vorherigen, aber nur ein klein wenig schlimmer. Man wartet auf den nächsten Anlass und wieder auf den nächsten. Man wartet auf ein großes, schockierendes Ereignis, denn man glaubt, wenn ein solcher Schock eintritt, werden sich andere einem anschließen und irgendwie Widerstand leisten. Alleine will man nicht handeln oder auch nur den Mund aufmachen. Man will sich nicht 'zu weit aus dem Fenster lehnen'. Warum nicht? Nun, man ist es einfach nicht gewöhnt. Und nicht nur die Angst steht einem im Weg, die Angst, sich zu exponieren. Man ist auch tatsächlich verunsichert.

Verunsicherung ist ein ganz entscheidender Faktor, und mit der Zeit nimmt er nicht ab, sondern zu. Draußen, auf den Straßen, in den Städten ganz allgemein, sind 'alle' zufrieden. Man hört keine Proteste hören, geschweige denn, dass man welche sieht. Wissen Sie, in Frankreich oder Italien pinselt man Parolen gegen die Regierung auf Wände und Zäune. In Deutschland, außer vielleicht in den großen Städten, gibt es nicht einmal das. Innerhalb der akademischen Gemeinschaft, in den eigenen Kreisen, spricht man privat mit Kollegen, unter denen gewiss einige die Bedenken teilen, die man selbst hegt. Aber was sagen sie? Sie sagen: 'Es ist nicht so schlimm' oder 'Sie sehen Gespenster' oder 'Sie sind ein Schwarzseher'.

Und man ist ja tatsächlich ein Schwarzseher. Man sagt, dies muss zu jenem führen, aber man kann es nicht beweisen. Ja, es sind die Anfänge, aber wie will man das wissen, wenn man das Ende nicht kennt, und wie könnte man das Ende kennen oder auch nur abschätzen? Auf der einen Seite wird man eingeschüchtert durch die Feinde, das Gesetz, das Regime, die Partei. Auf der anderen Seite stellen einen die Kollegen als Pessimisten oder gar Neurotiker hin. Es bleiben nur die engen Freunde, Menschen also, die seit jeher so denken wie man selbst.

Aber man hat jetzt weniger Freunde als früher. Einige haben sich abgesetzt oder sich in ihre Arbeit vergraben. Bei Besprechungen oder Versammlungen sieht man nicht mehr so viele von ihnen. Die Leute werden insgesamt weniger gesellig. Kleine Organisationen verlieren an Zulauf und verschwinden allmählich. Bei privaten Zusammenkünften mit den vertrautesten Freunden hat man jetzt das Gefühl, sich in den Gesprächen im Kreis zu drehen, von der äußeren Wirklichkeit abgeschnitten zu sein. Das untergräbt das Selbstvertrauen weiter und hält einen zusätzlich ab von – von was? Es wird immer deutlicher, dass man, will man etwas unternehmen, sich erst eine Gelegenheit dafür schaffen muss, und dann steht man definitiv als Störenfried da. Also wartet man immer weiter ab.

Doch das eine große, schockierende Ereignis, nach dem zehn oder hundert oder tausend Leute zusammen mit einem aufstehen, es kommt nicht. Das macht es so schwierig. Wenn die letzte, schlimmste Tat des Regimes unmittelbar auf die erste, geringfügigste gefolgt wäre, hätte das für Tausende, ja für Millionen einen ausreichend großen Schock bedeutet – sagen wir, die Vergasung der Juden ab 1943 wäre unmittelbar nach den Aufklebern 'rein arisch' gekommen, die 1933 in den Schaufenstern nichtjüdischer Geschäfte auftauchten. Aber natürlich ist der Ablauf ein anderer. Zwischen diesen beiden Punkten liegen Hunderte von kleinen, teilweise unmerklichen Schritten, und jeder einzelne bereitet die Menschen darauf vor, auf den nächsten nicht allzu schockiert zu reagieren. Schritt C ist nicht so viel schlimmer als Schritt B, und wenn man gegen Schritt B nichts unternommen hat, warum dann gegen Schritt C? Und so gelangt man zu Schritt D.

Eines Tages, zu spät, stürmen dann all Ihre Prinzipien, wenn Sie sich ihrer denn je bewusst waren, auf Sie ein. Die Last der Selbsttäuschung ist zu schwer geworden, und eine Kleinigkeit – in meinem Fall war es mein kleiner Sohn, der 'Saujud' sagte, obwohl er doch fast noch ein Baby war – bringt den Stein ins Rollen. Jetzt erkennen Sie, dass vor Ihrer eigenen Nase alles, alles radikal anders geworden ist. Die Welt, in der Sie leben – Ihr Vaterland, Ihr Volk –, gleicht überhaupt nicht mehr der Welt, in die Sie hineingeboren wurden. Äußerlich ist alles, wie es war, unberührt, beruhigend: die Häuser, die Geschäfte, der Arbeitsplatz, die Essenszeiten, die Besuche, die Konzerte, das Kino, der Urlaub. Aber der Geist, den Sie nie bemerkt haben, weil Sie ihn Ihr Leben lang irrtümlicherweise mit den Äußerlichkeiten gleichgesetzt haben, der Geist hat sich verändert. Jetzt leben Sie in einer Welt von Hass und Angst, und die Menschen, die von Hass und Angst erfüllt sind, sind sich dessen nicht einmal bewusst. Wenn jeder dem Wandel unterliegt, verwandelt sich niemand. Jetzt leben Sie in einem System, dessen Herrschaft sich nicht einmal mehr Gott gegenüber verantwortlich fühlt. Das System selbst hätte dies nicht von Anfang an bezwecken können, doch um sich selbst aufrechtzuerhalten, musste es den Weg bis zu Ende gehen.

Sie selbst sind den Weg fast bis zu Ende gegangen. Das Leben ist ein ständiger Fluss, und nicht etwa eine Abfolge von Handlungen und Ereignissen. Der Fluss hat eine neue Ebene erreicht und Sie ohne jeglichen Widerstand Ihrerseits mitgerissen. Auf dieser neuen Ebene leben Sie jetzt, jeden Tag haben Sie sich besser darin eingerichtet, mit einer neuen Moral, mit neuen Prinzipien. Sie haben Dinge hingenommen, die Sie noch vor fünf Jahren, noch vor einem Jahr niemals akzeptiert hätten, Dinge, die für Ihren Vater, selbst in Deutschland, undenkbar gewesen wären.

Plötzlich stürmt all das auf Sie ein, alles auf einmal. Sie erkennen, wer Sie sind, was Sie getan haben oder vielmehr, was Sie nicht getan haben, denn nichts anderes wurde von den meisten von uns verlangt: nichts zu tun. Sie erinnern sich an jene frühen Besprechungen an Ihrem Institut, in der Universität: Wenn damals nur einer aufgestanden wäre, hätten vielleicht andere es ihm nachgetan, doch es ist keiner aufgestanden. Es war eine unbedeutende Angelegenheit, ob man nun diesen Bewerber einstellen sollte oder jenen, und man hat eben diesen und nicht jenen genommen. An all das erinnern Sie sich jetzt, und es bricht Ihnen das Herz. Zu spät. Sie werden es niemals wiedergutmachen können.

Was tun? Eigentlich müssten Sie sich jetzt erschießen. Einige wenige haben das getan. Oder Sie müssen Ihre Prinzipien 'anpassen'. Viele haben es versucht, und einige, vermute ich, mit Erfolg. Ich nicht. Oder Sie lernen, den Rest Ihres Lebens mit Ihrer Schande zu leben. Diese letzte Möglichkeit kommt unter den gegebenen Umständen dem Heldentum noch am nächsten: die Schmach auf sich zu nehmen. Viele Deutsche wurden auf diese armselige Art zu Helden, viele mehr, denke ich, als die Welt weiß oder wissen will."

Ich sagte nichts. Mir fiel dazu nichts ein.

"Ich kenne da einen Fall", fuhr mein Kollege fort, "von einem Mann aus Leipzig, einem Richter. Er war kein Nazi, nur auf dem Papier, aber gegen die Nazis war er sicher auch nicht. Er war einfach nur... Richter. 1942 oder 43, ich glaube, es war in den ersten Monaten des Jahres 43, wurde ihm ein Jude vorgeführt. Es ging dabei in der Nebensache auch um seine Beziehung zu einer 'Arierin'. Das war 'Rassenschande', ein Delikt, dessen Ahndung die Partei mit besonderem Eifer verfolgte. Im vorliegenden Fall aber lag es in der Macht des Richters, den Angeklagten für ein anderweitiges Delikt zu verurteilen und für sehr lange Zeit ins Gefängnis zu schicken. Das hätte ihn vor dem Parteigericht bewahrt, vor dem KZ und, mit aller Wahrscheinlichkeit, vor der Deportation und dem Tod. Nur war der Angeklagte nach Ansicht des Richters in dem 'nicht rassenbezogenen' Anklagepunkt unschuldig, und als ehrenwerter Richter sprach er ihn frei. Natürlich verhaftete die Partei den Juden, sobald er den Gerichtssaal verlassen hatte."

"Und der Richter?"

"Tja, der Richter. Der Fall ließ ihn nicht mehr los – ein Fall, in dem er wohlgemerkt einen Unschuldigen freigesprochen hatte. Ihm ging durch den Kopf, dass er den Angeklagten verurteilen und ihn so vor dem Zugriff der Partei hätte schützen sollen, aber wie hätte er einen Unschuldigen verurteilen können? Die Sache nagte immer mehr an ihm, und er musste sie sich von der Seele reden, erst gegenüber der Familie, dann gegenüber den Freunden und schließlich den Bekannten. So ist die Geschichte mir zu Ohren gekommen. Nach dem Putschversuch von 1944 wurde er festgenommen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht."

Ich sagte nichts.

"Nach Ausbruch des Krieges", sprach mein Kollege weiter, "stieg die Gefahr, für Widerstand, Protest oder kritische Äußerungen drakonisch bestraft zu werden, um ein Vielfaches. Schon mangelnder Enthusiasmus oder auch nur das Versäumnis, ihn in der Öffentlichkeit zu bekunden, galten als 'Defätismus'. Man ging davon aus, es gebe Listen von Personen, mit denen 'hinterher', nach dem Sieg, abgerechnet werden würde. Goebbels erwies sich auch hierin als sehr schlau. Fortwährend versprach er eine 'Siegesorgie', bei der man sich um jene 'kümmern' werde, die glaubten, ihre verräterische Gesinnung sei unentdeckt geblieben. Und er meinte das auch so. Das war keine bloße Propaganda. Jedenfalls genügte es, um aller Verunsicherung ein Ende zu machen.

Nach Kriegsausbruch konnte die Regierung alles für den Sieg 'Notwendige' angehen. So auch die 'Endlösung der Judenfrage', von der die Nazis stets gesprochen, an deren Umsetzung sich jedoch selbst sie nicht gewagt hatten, bis der Krieg und seine 'Notwendigkeiten' ihnen die Gewissheit verliehen, damit durchzukommen. Wer im Ausland glaubte, der Krieg gegen Hitler würde den Juden helfen, der lag falsch. Und wer in Deutschland nach Kriegsausbruch immer noch an Protest und Widerstand dachte, der musste darauf setzen, dass Deutschland den Krieg schließlich verlieren würde. Das war ein großes Risiko. Nur wenige sind es eingegangen."


Für das Lektorieren dieser Übersetzung danke ich Tanja Handels ganz herzlich.


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