"Santiago en cien palabras" ("Santiago in hundert Wörtern") heißt eine seit 2001 überaus erfolgreiche Initiative der Zeitschrift Plagio: ein Wettbewerb mit Kurztexten über die chilenische Metropole, bestehend aus maximal einhundert Wörtern. Der Clou daran ist, dass ausgewählte Beispiele die U-Bahn-Stationen der Stadt zieren, Passanten zum Lesen anhalten und sich so ein Dialog zwischen Text und Stadt entspinnen kann – eine literarische Intervention im urbanen Raum, die mir ebenso gut gefällt wie die Beschränkung auf hundert Wörter. Diese korrespondiert im Übrigen mit der Schnelligkeit von Ort und Medium.

Die Kurzerzählung "Buitre" des 18jährigen Waldo Adasme wurde im Wettbewerb des Jahres 2003 mit dem 2. Platz ausgezeichnet. Sie hing unter anderem in der Station "Tobalaba" aus; dort begegnete sie mir im März 2004.

Original und Übersetzung erfüllen die formale Vorgabe punktgenau. Ich danke dem Autor und Plagio für ihre freundliche Genehmigung.

Geier

Das Formular war vollständig ausgefüllt, nur eines blieb noch einzutragen, Graneros oder Santiago. Ich überlegte kurz. Graneros war näher und eine ruhige Stadt. Santiago dagegen hieß sehr früh aufstehen und wenig Sicherheit. Ich wägte alle Pros und Contras ab. Schließlich dachte ich an meine Familie. Wenn ich nicht wegzog, würde ich zuhause mithelfen können, meine Mutter und meinen Bruder unterstützen, außerdem könnte ich Geld sparen. Andererseits bedeutete Santiago Chancen, Parties, Kohle... Ich griff zum Kugelschreiber und schrieb Santiago, denn diese Stadt hat eine Wirkung wie Honig auf Bienen, wie Blut auf Geier, ein Vogel, der mir ziemlich ähnlich ist.


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