Alle empfohlenen Titel waren zum Zeitpunkt der Empfehlung bei amazon.de
erhältlich – eine Bestellung bei der nächstbesten guten
Buch- oder Musikhandlung tat es auch, hoffentlich noch immer. Bleibt mir
nur, weiterhin die nötige Muße und viel Vergnügen zu wünschen!
September 2005
Fred Vargas, Der
untröstliche Witwer von Montparnasse
(übersetzt
von Tobias Scheffel, Aufbau Verlag 1999)
Der "Trottel" Clément Vauquer soll
einem Frauenmörder, der Paris unsicher macht, als Sündenbock
dienen. Nur ist er der Ziehsohn der Prostituierten a. D. Marthe, diese
wiederum befreundet mit dem Ex-Inspektor Louis Kehlweiler alias "l'Allemand",
der wiederum ist zwar eigentlich mit der Übersetzung einer Bismarckbiographie
voll und ganz ausgelastet, kann aber doch nicht aus seiner alten Polizistenhaut.
Und ein paar Kontakte hat er ja dann auch noch, so zu den drei "Evangelisten",
einer bereits aus anderen Romanen der Autorin bekannten Hausgemeinschaft
von halbwegs verkrachten Historikern. Mit deren Hilfe wird sich Kehlweiler
ebenso widerwillig wie hartnäckig für Clément einsetzen.
Was ist anders an den Krimis der Autorin, die unter
dem Pseudonym Fred
Vargas auftritt? In erster Linie wohl die Häufung von Außenseitern
und Vertretern nicht nur neurotischer Eigenwilligkeit, die von Vargas
mit distanzierter Sympathie in Szene gesetzt werden. Natürlich werden
mit den Pariser Schauplätzen Punkte gesammelt; natürlich fehlt
es nicht an Ironie und Sprachwitz. Und weil es da alles in allem so menschlich
zugeht, unterbleibt jetzt der Seitenhieb auf den deutschen Titel.
Soda Stereo, Comfort y música
para volar
Kurz vor ihrer Abschiedstournee sorgte Soda
Stereo, die erfolgreichste argentinische Rockband der 80er und 90er
Jahre – Sänger und Gitarrist Gustavo Cerati, Bassist Zeta Bosio
und Drummer Charly Alberti, häufig unterstützt von dem legendären
Keyboarder Tweety González – für die vermutlich mogelverpackteste
'Unplugged'-Produktion jener Zeit. Von dem Konzept der akustischen Instrumentierung
übernahm man als Einziges die Anregung, einige Klassiker der eigenen
Bandgeschichte neu zu arrangieren (die Streicher wünschenwert dezent)
– ein Repertoire, das gegenüber den Originalaufnahmen häufig
tatsächlichen Mehrwert bietet. Wozu in diesem Fall auch der eine
oder andere Gastauftritt beiträgt, vor allem im Fall des Openers
"La ciudad de la furia", das hier als Duett Ceratis mit der
Aterciopelados-Sängerin Andrea Echeverri daherkommt. Sein unglaubliches
E-Gitarrensolo versöhnt dann auch, soweit nötig, mit den ganzen
Kabeln, die da noch auf der Bühne herumlagen.
Weitere Glanzlichter setzen "Ángel eléctrico"
und die an den kurzen Liveteil angehängten Studiostücke, insbesondere
"Coral". Zur musikalischen Substanz und Wandlungsfähigkeit
der Band gesellt sich ein Aspekt, der allerdings Spanischkenntnisse erfordert.
Wenn man die suggestiven, selten linearen Texte der Songs nicht als sinnfrei
oder hermetisch abtut, stellt man fest, dass sie sich gerade aufgrund
ihres unhistorischen, losgelösten Charakters einiges an Offenheit
bewahren – eine fast blanke Projektionsfläche. Einzelne Phrasen
bleiben im Ohr, drehen sich weiter, ob zu Recht oder nicht, ob identifikatorisch
oder als Reise in Anderes: "Ich war so fügsam wie ein Handschuh
und so aufrichtig ich konnte, sie aber gebrauchte meinen Kopf wie einen
Revolver"; "ein neuer Akkord, und du siehst mir in die Augen;
noch bleibt mir die Sonne, um deinen Schatten zu küssen".
August 2005
Italo
Calvino, Sechs Vorschläge für
das nächste Millenium
(übersetzt
von Burkhard Kroeber, Hanser 1991)
Vor
vielen Jahren in Madrid: eine heruntergekommene Pension nahe der Plaza
España, ein Mexikaner mit großem Namen, ein paar Biere in
den Betongrotten Richtung Argüelles, wo gerade der botellón
angekommen war. Begeisterung hatte man für anderes übrig, zum
Beispiel für Literatur. O-Ton des jungen Cervantes: "Vor allem
bräuchten wir mehr Leser wie Borges!"
Daran
denke ich, wenn ich Italo Calvinos "Lezioni americane" zur Hand
nehme, ein Vermächtnis, handelt es sich doch um die unvollendeten
Harvard-Vorlesungen, an denen er bis zu seinem Tod im Jahre 1985 gearbeitet
hatte. "Legerezza" – "Rapidità" –
"Esatezza" – "Visibilità" – "Molteplicità":
Fünf von sechs der vorgesehenen Charles Eliot Norton Lectures hatte
Calvino so weit ausformuliert, dass sie posthum veröffentlicht werden
konnten. Von der letzten ist nur überliefert, dass sie den Titel
"Consistency" tragen und sich auf Melvilles Bartleby
stützen sollte.
Leichtigkeit
– Schnelligkeit – Genauigkeit – Sichtbarkeit –
Vielfalt: Calvino ließ keinen Zweifel daran, dass er mit diesen
literarischen Werten (diesem Orientierungsangebot) auch das jeweilige
Gegenteil oder Gegenstück zulassen wollte. In gewisser Weise bedachte
er es bereits mit. Man findet hier die Lesefrüchte eines langen Lebens,
die voller Gelassenheit und Freude, ohne Pomp präsentiert werden.
Und dabei ist all dies Einzelne in thematische und gedankliche Kontinuitäten
eingebettet, die explizit auch andere sein könnten. Das stellt eine
Einladung zum Lesen und Denken dar, wie man sie eigentlich nicht ausschlagen
kann.
– wieder anders –
"Algo está cambiando", Julieta Venegas, Sí
"Coraggio", Jovanotti, Lorenzo 2005
- Buon sangue
"Lilás", Djavan, Ao Vivo
[Disc 2]
"Jaco", Tino Di Geraldo, Flamenco
lo serás tú
"Have You Met Chet?", Till Brönner, Chattin'
with Chet
"Ev'ry Time We Say Goodbye", Till Brönner feat. Supernatural,
Chattin' with Chet
"Bruto", Jovanotti, Lorenzo 2005
- Buon sangue
"So Have I For You", Nikka Costa, Everybody
Got Their Something
"Tokyo", Vinicius Cantuária, Horse
and Fish
"Tumbas de la gloria", Fito Páez, Euforia
"Zeit heilt alle Wunder", Wir sind Helden, Reklamation
"O nome dela", Vinicius Cantuária, Horse
and Fish
"New Brighter Day", Keziah Jones, Liquid
Sunshine
"Music/Impressive Instant", Adriana Calcanhotto, Cantada
"Antologia di stornello" – "Cosa sarà di noi",
Jovanotti, Lorenzo 2005 - Buon sangue - Extra
F.U.N.K.
"(It's A) Big World", Joe Jackson, Big
World
Juli 2005
–
diesmal anders –
"Loom", Ani DiFranco, Little Plastic
Castle
"Stelle buone", Cristina Donà, Tregua
"It's Great When We're Together", Finley Quaye, Maverick
A Strike
"Paseo inmoral", Gustavo Cerati, Bocanada
"L'excessive", Carla Bruni, quelqu'un
ma dit
"Confusa e felice", Carmen Consoli, Un
sorso in più
"I Burn For You", Sting, Bring On
The Night
"Marco Polo", Jovanotti, Raccolta
"La 5ème saison", MC Solaar, MC Solaar
"Cae el sol", Soda Stereo, El último
concierto B
"The Sea", Morcheeba, Big Calm
"Pulse", Ani DiFranco, Little Plastic
Castle
Neruda
leyendo "En ti la tierra"
"Eu sou meu guia", Lenine, Na Pressão
Juni 2005
Julie Orringer, Unter
Wasser atmen. Storys
(übersetzt von Bettina Abarbanell, Kiepenheuer & Witsch 2005)
Bei der in deutschen Verlagen doch recht verbreiteten Kurzgeschichtenphobie
ist es erfreulich, dass gleich das erste Buch der jungen amerikanischen
Autorin Julie Orringer, eine Sammlung von Short Stories, hierzulande gut
unterkam. Geschichten aus weiblicher Perspektive – mag sich
A.
L. Kennedy noch so sehr ereifern – und häufig, überwiegend
aus der Perspektive von Außenseiterinnen: Das scheint Programm zu
sein, wirkt aber unaufdringlich in der Umsetzung. Vielmehr handelt es
sich um präzise beobachtete und ohne beschönigenden Zuckerguss
oder moralisches Magenbitter erzählte Episoden. Herausragend wohl
die "Ratschläge an ein Sechstklässler-Ich".
Cristina Donà, Tregua
(1997)
Es hat etwas Erschreckendes, wenn jemand seine besten Arbeiten gleich
zu Beginn vorlegt. Zur Zeit, wie man hört, in der italienischen Heimat
sehr erfolgreich, überzeugt Cristina
Donà doch am meisten mit ihrem vor acht Jahren veröffentlichten
Erstling (und dem Nachfolger Nido von 1999). Bissig-rockige Songs,
sparsame, dabei differenzierte Instrumentierung und eine große Stimme
zwischen Leidenschaft und Sarkasmus. Anspieltipps: "Stelle buone"
mit seinem Westerngroove, der dem Lied nichts an Tiefe nimmt, und das
heiter-gelassene "Risalendo".
Mai 2005
Ray Loriga, Tokio
liebt uns nicht mehr
(übersetzt von Alexander Dobler, A1 Verlag 2000)
Ein Buch über das Vergessen ist unweigerlich eines über das
Erinnern: Anfang des neuen Jahrtausends reist der namenlose Erzähler
um die Welt und dealt mit legalen Drogen, die Erinnerungen zielgenau zu
löschen vermögen. Den Stoff selbst zu verwenden, ist ihm strengstens
untersagt, was ihn freilich einen Dreck schert. Doch seine eigene Geschichte
wird er dadurch nicht los. Nach etwa zweihundert Seiten fällt der
Roman aus der Lakonik weitgehend sinnfreier Erlebnisse (Sex, Drogen, Hotels
und Flughäfen, Sex, Drogen, eine Gegenwart nach der anderen), fällt
in das Fast-Nichts der Erinnerungen, in eine Reha-Klinik in Berlin, wo
die Fragmente einer Liebesgeschichte ausgegraben werden. Topkandidat in
der Kategorie "interessantestes unbefriedigendes Buch".
Don Grolnick, Nighttown
(1992)
Auf der offiziellen Website des früh verstorbenen Pianisten und
Produzenten Don
Grolnick ist zu lesen: "Wie die Liebe und der Tod ist Swing ein
tiefes, ja unergründliches, endlos faszinierendes Geheimnis."
Swing, nicht der Swing: Weit entfernt davon, einem überkommenen Stil
zu huldigen, war Grolnick vielmehr ein Musiker, der aus tiefer Kenntnis
der Tradition heraus komponierte und spielte, ohne das Vergangene nur
wiederholen zu wollen.
In den frühen 90ern führte ihn das zu Aufnahmen mit stargespickten
siebenköpfigen Formationen: Randy Brecker an der Trompete, dessen
Bruder Michael oder Joe Lovano am Tenorsaxophon, Barry Rogers oder Steve
Turre an der Posaune und Bob Mintzer oder Marty Ehrlich an der Bassklarinette,
dazu die Rhythm Section mit Grolnick selbst, dem Bassisten Dave Holland
sowie den Schlagzeugern Peter Erskine bzw. Bill Stewart. Die Alben Nighttown
und Weaver of Dreams (mittlerweile
auch als Doppel-CD erhältlich: The Complete
Blue Note Sessions) bieten neben ein paar Standards vor allem Eigenkompositionen:
präzise und subtile Arrangements, ein Raum, in dem nichts Überflüssiges
steht.
Dem Bandleader Grolnick, der auch als Produzent die Fäden in der
Hand hielt, gelangen damit Aufnahmen von gelassen-zurückhaltender
Schönheit. Das Cover von Nighttown
zeigt ein Schwarzweißbild des Pianisten, in sich ruhend, ein Mann
am richtigen Ort. Der Schriftzug dagegen widerspricht dem klassischen
Blue-Note-Design, orange der Name, grün der Titel, Kleinschreibung
– weniger Zugeständnisse an eine Modernität, der man nicht
angehörte, als Farbtupfer, die eben auch zugelassen werden konnten.
Anspieltip: das beschwingte "Genie".
April 2005
Neil Postman, Wir
amüsieren uns zu Tode
(übersetzt von Reinhard Kaiser, Fischer 1985)
Noch so ein zwanzigjähriges Jubiläum. Ein Freund liest gerade
Neil
Postmans Medienkritik, und er hat Recht: Die Einwände dagegen
sind Kinkerlitzchen. Das Buch mag veraltet sein, sicher ist es überzogen
schwarzmalerisch und polemisch, undifferenziert und voller Ungenauigkeiten,
aber es lohnt sich noch immer, Postmans Ideen zur Kenntnis und sich ein
wenig zu Herzen zu nehmen. Und sie dann zu diskutieren, von mir aus auch
abschätzig, und am Ende des Abends hat man den Fernseher ausgelassen.
Und darum geht es doch, ganz unintellektuell gesagt.
Worum es in Wir amüsieren uns zu Tode
sonst noch geht, kann man zum Beispiel in den amazon-Kundenrezensionen
nachlesen. Oder man überfliegt in einer gemütlichen Buchhandlung
die ersten Seiten, Postmans berühmten Vergleich von Orwells 1984
(das bei uns gerade nicht eingetreten war) mit Huxleys Schöner
neuer Welt (von der Postman behauptet, wir müssten sie wiedererkennen,
oder uns darin).
The Police, Synchronicity
(1983)
Die Kunst, auf dem Höhepunkt abzutreten oder besser, weiterzugehen,
selten wurde sie so zelebriert wie von der Rockband The Police. Was Sting
anschließend tat, ist bekannt genug. Gitarrist Andy
Summers wechselte zurück ins Jazzlager, in den letzten Jahren
unter anderem mit Hommagen an Thelonious Monk und Charles Mingus. (Wie
der Rapper Q-Tip ein unveröffentlichtes Gedicht von Mingus über
dessen berühmtestem Thema "Goodbye Pork Pie Hat" rezitiert,
wäre eine eigene Empfehlung wert.) Drummer
Stewart Copeland blieb vor allem als Komponist von Filmmusik aktiv,
veröffentlichte zuletzt Orchestrales mit interessantem Begleitmaterial.
Zurück zu Police und zum Album Synchronicity:
Die Band krönte mit diesen Aufnahmen ihre Karriere, die im Rückblick
wie ein einziger steiler und unaufhaltsamer Aufstieg wirkt (aber wie der
Historiker Christian Meier in seinem großen Athen-Buch
bemerkt, hinterher scheint immer alles wahrscheinlich, was nur wahr, also
Fakt ist, aber offen war, bevor es geschah). Neben den ohrwurmigen Hits
"Every Breath You Take" und "Wrapped Around Your Finger"
sind es einige Basslinien und Riffs, die sich in die Erinnerung eingegraben
haben und darin ruhen wie in Vinyl, bereit für Nadel und Tonabnehmer.
Allen voran der ebenso treibende wie dringliche Groove von "Synchronicity
II", dessen Lyrics kontrastieren mit einer Euphorie, wie sie guten
Rock wohl doch ausmacht. Lange nicht gehört, und daher umso klarer:
historisch.
(Unter
dem Menü "Select" kann man hier einiges über die
spannungsreiche Entstehung des Albums erfahren. Was genau eine große
Band ausmacht, ist schwer zu definieren. Aber dass Synchronicity
von Stings Dominanz nicht entscheidend behindert wurde, vermittelt etwas
vom Sinn der Behauptung, ein Ganzes sei mehr als die Summe seiner Teile.
Dann zurückkehren zu früheren Platten wie Regatta
de blanc, und die Größe war schon da.) "Tea in
the Sahara" brachte so manchen dazu, Jahre vor Bertoluccis Film Paul
Bowles zu lesen, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
März 2005
Heinrich Steinfest,
Nervöse Fische
(Piper 2004)
"'Ja', bestätigte Lukastik, 'Haie auf Hochhäusern sind
nicht die Norm.'"
Es hätte auch ein Reinfall sein können. Auf dem Dach eines Wiener
Hochhauses wird ein Toter entdeckt. Er liegt im Pool und ist offenbar
einem Haiangriff zum Opfer gefallen. Cui bono,
fragen sich weder Chefinspektor Lukastik noch der Buchkäufer, denn
die Antwort könnte lauten: damit der Klappentext auf skurril machen
kann.
Zum Glück erweist sich Heinrich
Steinfest dann tatsächlich als begnadeter Idiosynkrat und zieht
über dreihundert Seiten hinweg eine geradezu phantastisch seltsame
Perspektive durch, die von allen Beteiligten mitgetragen wird –
Autor, Erzähler und Figuren. Die Folge ist überraschtes Kopfschütteln
bis ungläubiges Lachen auf Seiten des Lesers, der zudem feststellen
darf, dass unter der Oberfläche des Skurrilen immer wieder unverhoffte
Wahrheiten hervorlugen.
So gibt sich der Steinfestsche Krimi weniger als genreübliche Repräsentation
gesellschaftlicher Zu- und Missstände – eher handelt es sich
um ein ziemlich gewitztes Ausloten psychischer Umstände und Umständlichkeiten.
Vielleicht war es ein Gebot der Höflichkeit, quasi zum Ausgleich
die Figuren mit einer gehörigen Portion Renitenz auszustatten:
"'Ihr Dickschädel kostet mich meine letzten Nerven', erklärte
der Major.
'Um Nerven ist es wirklich nicht schade', erwiderte Lukastik."
Kann das auch ermüdend werden? Zweifellos. Aber wer trägt Schuld
daran, wenn Sie sich an Sachertorte überfressen? Wobei ein solches
Wiener Klischee diesem Roman wohl so fremd bleibt wie dem Fisch das Schwimmbecken.
Joe Jackson, Big
World (1985)
Fast zwanzig Jahre ist es her, dass Meister Jackson
sich zum puristischen Geniestreich aufschwang und eine Live-Doppel-LP
ohne Applaus herstellte, ohne Korrekturen jedweder Art und ohne vierte
Seite. Nun ja, die vierte Seite gab es natürlich, nur trug sie die
lakonische Aufschrift: "There is no music on this side". Vom
bunten Cover sprach einen der Titel "Big World" nicht nur auf
Englisch, sondern in einer Unmenge von Sprachen an und stimmte auf eine
Reise ein, die dann auch thematisch eingelöst werden sollte. Serge
Clercs ligne-claire-Zeichnung deutete
an, dass übermäßiger Ernst vielleicht doch nicht angebracht
sein mochte, doch damit hielt ich mich nur sehr kurz auf. Ich war fünfzehn
und hörte und hörte und verglich die Lyrics mit den beiliegenden
Übersetzungen, sah alles, was mir nicht klar wurde, im Wörterbuch
nach.
Die Frage nach Purismus oder Prätention dieser zweispurigen Aufnahme
wird man heute nicht mehr so heiß essen, wie sie seinerzeit gekocht
wurde. Musikalisch scheint mir die Substanz des Albums noch immer über
jeden Zweifel erhaben. Die Band spielt das vielseitige Material so geradlinig,
wie man sich wünschen kann, wobei dem überragenden Vinnie Zummo
ein Sonderlob gebührt – da Jacksons Klavier die meiste Zeit
über stumm bleibt, kommt dem Gitarristen harmonisch und melodisch
eine entscheidende Rolle zu.
Und dann ist da eben die weite Welt der Songs, bauchrednerisch-vielstimmig,
zwischen Pathos und Sarkasmus: vom Opener "Wild West", der den
Mythos vom "land of the free and the not so often brave" aufleben
lässt, über das bittersüße "Shanghai Sky"
und den präzise aufgespießten Zynismus von "The Jet Set"
bis zur frei fließenden, leichten Nostalgie von "Home Town".
Jacksons frühere Hits wird man hier vergebens suchen (die leere vierte
Seite lässt grüßen), dafür passt jetzt alles auf
eine CD.
Februar 2005
Sor Juana Inés de la Cruz, Die
Antwort an Schwester Philotea
(übersetzt von
Hildegard Heredia, Verlag Neue Kritik 1991)
Zu Lebzeiten (1648/51 - 1695) avancierte die als Juana Inés de
Asbaje geborene Hofdame und spätere Nonne zur gefeierten Dichterin
– zu Mexicos "Zehnter Muse" Sor Juana Inés de la
Cruz. Der dritte Band ihrer Werke erschien posthum und sicherte ihr noch
einige Jahre Nachruhm, bevor sie (mitsamt ihrer Epoche) weitgehend in
Vergessenheit geriet. Das 20. Jahrhundert entdeckte die barocke Lyrik
wieder, und der Feminismus eine frühe Säulenheilige: Die Antwort
ist ein Manifest für weibliche Bildung, für weibliches Denken
und Schreiben, Resultat bis heute nicht restlos geklärter Debatten
und Ränkespiele, doch auch ohne diesen Hintergrund zugänglich.
Der Text steckt voller gelehrter Anspielungen (wer möchte, kann in
der deutschen Ausgabe auf einen kleinen Apparat von Anmerkungen zurückgreifen)
und bedient sich einer höflichen Floskelhaftigkeit, hinter der polemischer
Widerstandsgeist aufblitzt. Spannend!
Falls jemand es wirklich viel genauer wissen will: Mein wissenschaftliches
Erst- und Letztlingswerk "Kalkulierte Zumutungen: Die Widersprüche
der Sor Juana Inés de la Cruz" gibt es hier
als pdf-Datei (304 KB – erscheint im Sammelband Die
Geschlechter im Gespräch, hg. von Rüdiger Schnell, im
Wege der Publikation).
João Bosco,
Na esquina (ao vivo)
(2001)
João
Bosco ist ein virtuoser, sehr kompletter Musiker, als dessen Markenzeichen
ein unnachahmlich perkussiver Umgang mit Stimme und Gitarre gelten kann
(für Puristen: auf dem zehn Jahre älteren, leider etwas kurzen
Soloalbum João Bosco Acústico
ist dies in Reinform dokumentiert). Stilistisch war er immer dem Samba
verbunden, dessen Klassiker er in gelegentlich geradezu überreizter
Form zelebriert – vielleicht ein notwendiges Gegengewicht zur Integration
einer Vielzahl von Einflüssen, von regionaler Folklore bis hin zum
Jazz.
All dies lässt sich nun auf einem Live-Doppelalbum nachvollziehen,
das einen guten Überblick über João Boscos Schaffen bietet,
von alten, noch zusammen mit Aldir Blanc geschriebenen Erfolgen wie "O
ronco da cuica" und "Corsário" über das grandiose
"Holofotes" aus den frühen 90ern bis zu den jüngsten
Kompositionen zu Texten seines Sohnes Francisco. Die Band spielt die neuen
Arrangements auf hohem musikalischen Niveau und mit hörbarem Genuss,
so dass wohl auch bei Kennern keine Langeweile aufkommt.
Januar 2005
Nikka Costa, Everybody Got Their Something
(2001)
So kurz nach Weihnachten sollte man noch in versöhnlicher
Stimmung sein. Lief "Like a Feather", der Eröffnungssong
dieses Albums, doch tatsächlich in der Reklame für einen Modedesigner,
einen so unsäglichen, dass mir partout sein Name nicht einfallen
will. Bitte um Vergebung!
Nikka
Costa ist ziemlich herumgekommen seit ihren Tagen als Kinderstar,
der schon mal im Vorprogramm von The Police vor ein paar hunderttausend
Leuten auftrat. Im Haus ihres früh verstorbenen Vaters, des Produzenten
Don Costa, gaben sich Musikerpersönlichkeiten vom Kaliber eines Frank
Sinatra die Klinke in die Hand. Anfang zwanzig machte sie sich in Australien
einen Namen, um dann in die USA zurückzukehren und 2001 ein spätes
'Debütalbum' herauszubringen.
Der Wert dieser Anekdoten: Die junge Dame ist eine
Veteranin, deren Erfahrung und Sicherheit man jedem Takt von Everybody
Got Their Something anmerkt. Hier weiß eine genau, was sie
will. Der Weg dorthin führt über Rock, Funk, Soul, ein wenig
Hip Hop, ein paar Samples, gelegentliche Streicher und Bläsersätze
und eine große, leidenschaftliche Stimme, die für meinen Geschmack
manchmal zu sehr in Richtung Rockröhre abdriftet (so am Ende von
"Tug of War"). Dann setzt mit dem Titelstück der nächste
unwiderstehliche Groove ein, und man verzeiht dem Geschrei, und wenn Weihnachten
24 Monate her wäre. Zum Ende hin wird das Album ruhiger und noch
konzentrierter, um mit den brillanten "Push & Pull" und
"Corners of My Mind" zu schließen. Die komplexen, raffiniert
Akzente setzenden Arrangements erklären, warum diese Aufnahmen zwei
Jahre in der Mache waren. (Na schön, Ullrich Maurer erklärt
es noch ein wenig genauer.)
Dezember 2004
Julián Ayesta, Helena oder das Meer
des Sommers
(übersetzt von
Dagmar Ploetz, C. H. Beck 2004)
Sieben lyrische Prosastücke, entstanden
über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren, begründen die literarische
Reputation des Diplomaten Julián Ayesta (1919-1996). Auf Spanisch
erschien das Bändchen Helena oder
das Meer des Sommers, das diese Texte
zusammenfasst, erstmals 1952 in der Kollektion der renommierten Zeitschrift
Ínsula,
zur Freude von Literaten und Kritikern. Nach der auch kommerziell erfolgreichen
Wiederauflage 2002 ist dieser kurze Roman einer ausgehenden Kindheit bis
ersten Jugend nun auf Deutsch zu genießen.
Die vor allem in Teil I und II vorherrschende, charmant kindliche Perspektive
auf Sommerfrische und Winter wird aufs Vortrefflichste durch das präzise
Erinnern des Erzählers ergänzt, der mit stiller Systematik Gesichts-,
Gehör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn durchgeht und die Eindrücke
des Kindes zu einer Feier des Vergangenen zusammenfügt. Es ist diese
Konkretheit, die Ayestas Prosa von bloßem Preziosismus abhebt.
Im dritten Teil "Noch ein Sommer" geht es nicht mehr um die
Erlebnisse eines kleinen Jungen: Die bald atemlose, bald durch den Punkt
entschlossen abgewogener Sätze interpunktierte Reihung von Sinneseindrücken
weicht zunehmend einer Hierarchie von Ereignissen, noch immer sinnlich,
doch von Bildungselementen und romantischer Symbolik befrachtet. Nun diskutiert
der Junge mit seiner geliebten Helena über die geographische Form
der Wolken, hängt vagen Vergilfetzen nach, imaginiert bukolische
Szenarien wie in einem antiken Abenteuerroman – vielleicht auch
eine Weise, die Jugendliebe literarisch an den Klippen der Zensur vorbeizusteuern.
Konnte der Text anders enden als mit der Beschwörung von Zeitlosigkeit
und mit Auslassungspunkten?
Tino di Geraldo, Flamenco
lo serás tú (1998)
Tino di Geraldo ist vor allem als Percussionist
aus der Flamenco-Jazz-Szene bekannt, gilt allerdings auch als einer der
meistgefragten Sessionmusiker Spaniens, der schon für zahlreiche
iberische Pop- bis Songwritergrößen von Luz Casal über
Juan Perro bis zu Pedro Guerra den Takt gehalten hat. Solche Vielfalt
schlägt sich in seinen Soloprojekten als hemmungsloser, von dem Multi-Instrumentalisten
di Geraldo großteils eigenhändig umgesetzter Eklektizismus
nieder, eine Haltung, die er in
Interviews mit Nachdruck als musikalische Offenheit und Neugier verteidigt.
Den Titel seines 98er-Albums darf man als Programm und Warnung zugleich
verstehen: "Deine Musik ist vielleicht
Flamenco", mir kommt bitte nicht mit Etiketten.
Andererseits lässt sich der Titel auch als Teil der Hommage an die
Musiker begreifen, denen di Geraldo hier vielsprachig antwortet: Ist Flamenco
eine Frage der Einstellung, so kann der Bassist Jaco Pastorius als flamenco
durchgehen, dessen berühmtes "Teen Town" für das nach
ihm benannte (und mit spektakulären Vocals von Diego Carrasco versehene)
Stück Pate steht. Die Komposition "Manuel" zitiert,
wie der Fachübersetzer
und Jazzkenner Peter Billaudelle weiß, "Will O' the Wisp"
von Miles Davis' Sketches of Spain.
Ebenso ungeniert bedient sich Tino di Geraldo für "Angelillo"
bei John Scofields "The Boss's Car", das mit palmas
und Backgroundgesang ein neues Gewand übergezogen bekommt. Auch hier
greift er wieder selbst zur Bassgitarre, deren kraftvoll-melodiöse
Linien – trotz der einen oder anderen hardrock-artigen Attacke –
den Ton des Albums bestimmen. Gastauftritte des aus Guinea-Bissau stammenden
Sängers Bidinte, des Gaita-Spielers Jorge Fernández und des
Pianisten Chano Domínguez runden das bei aller Stilmischung erstaunlich
konsistente Flamenco lo serás tú
ab.
November 2004
Paul Auster, Das Buch der Illusionen
(übersetzt von Werner Schmitz, Rowohlt 2002)
"I was looking for a great place to die. Someone recommended Brooklyn."
Das grandiose Incipit eröffnet nicht Paul Austers vorletzten, sondern
seinen nächsten Roman. Vorzeitig weiß man davon, weil sich
der Autor auf einer Anti-Bush-Fundraising-Veranstaltung dazu hinreißen
ließ, Auszüge aus dem unveröffentlichten work-in-progress
zu lesen. Dass es was nützt, heute weiß man auch dies, war
eine Illusion.
Der Zufall hat offenbar nicht kooperiert, und deshalb schweigen wir von
diesem Lieblingsthema des Autors. Nur eines: So vieles erscheint möglich
bei Auster. Wenn es nicht daran liegt, dass Zufall die Welt beherrscht,
dann muss es wohl am Autor liegen, einem Meister des Vorwands, der Literarisch-Essayistisches
mit höchstem Geschick in Geschichten ummünzt oder in sie einbettet.
Sein Meisterstück, die New-York-Trilogie,
lebte von der Aushöhlung eines Genres, des Detektivromans –
und schuf nebenbei Platz für den augenzwinkernden Entwurf einer Theorie
zur Autorschaft des Don Quijote. Diese Heterogenität charakterisiert
auch das Buch der Illusionen: Einerseits
handelt der Roman von den tragischen Verlusten des Ex-Professors David
Zimmer und seiner Rettung durch sture, enthusiastische Arbeit; andererseits
bietet es Fragmente aus seinen filmkritischen Arbeiten rund um das (fiktive)
Werk des Schauspielers und Regisseurs Hector Mann. Vor allem das zweite
Kapitel beschreibt dabei einen von Manns Stummfilmen so intensiv, dass
man schwören würde, man habe ihn gesehen.
Wie andere von Austers Figuren vor ihm geht Zimmer – konsequent
bis ins Letzte – den Phantomen nach, die der Autor ihm vorsetzt.
Ist es Eskapismus, wenn man dem Professor dabei folgt? Weg mit George
W. Bush: wenn nicht aus dem Weißen Haus, dann aus dem Kopf, und
hinein in die berauschende und luzide Welt der Fiktion, die nicht weniger
bestürzend sein kann, doch vielleicht weniger banal als die Realität,
in der Bush und sein Clan aus Lobbyisten und Selbstgerechten für
vier weitere Jahre regieren.
Bill Evans, Starfish & the Moon
(1997)
Mit 22 Jahren empfahl ihn David Liebman dem großen Miles Davis
für seine neue Band. 1984 folgte mit Living
in the Crest of a Wave das Solo-Debüt. Seither hat Bill Evans
auf mittlerweile dreizehn Alben und zahlreichen Touren mit hochkarätigen
Musikern eine bemerkenswert konstante Wandelbarkeit bewiesen, ob mit dem
energiegeladenen Jazzrock der frühen 90er (dokumentiert
auf dem Livealbum Let the Juice Loose!),
bei Ausflügen in Hip Hop und Soul oder auch auf Acoustic-Jazz-Pfaden.
Für letztere Variante, die Evans' lyrischem, melodisch einfallsreichem
Spiel sehr entgegenkommt, steht (trotz einiger Ausflüge in funkige
Gefilde) Starfish & the Moon. Der
großartige Arto Tuncboyacian zeichnet nicht nur für einen unaufdringlichen
Percussionteppich, sondern auch für stimmliche Unterstützung
verantwortlich. Zwei weitere Sänger, bisweilen folkartige Gitarren
und Jim Beards perlende Klavierbegleitung verleihen Evans' Kompositionen
und Solos noch größere Leichtigkeit als sonst. Vom Titelstück
gibt es auf der Website des Saxophonisten immerhin zwei Minuten zum Reinhören.
Apropos hören (und sehen, und vergehen): Bald soll der 3. Oktober
kein Feiertag mehr sein. Und der 9. November auch nicht? Oh doch: Happy
birthday, Bill! :-)
Oktober 2004
Wolf Haas, Das
ewige Leben
(Hoffmann und Campe 2003)
Ein Freund, Architekt,
liest Walter Benjamin. Er will erfahren, was es bedeutet, sich selbst
zu übersetzen. Also frisches Nachdenken über den berühmten,
dunklen Aufsatz zur "Aufgabe des Übersetzers", die allem
Anschein nach wenig mit der alltäglichen Arbeit zu tun hat. Eines
daraus bleibt klar, auch wenn man absieht von Benjamins Metaphysik: Übersetzen
soll die eigene Sprache bereichern, soll sie ergänzen.
Was das mit Wolf Haas zu tun hat? Der hat unsere Literatursprache bereichert,
ohne (im landläufigen Sinne) zu übersetzen. Jetzt ist er damit
durch, jedenfalls in der Variante Ex-Polizist-Brenner-plus-obskure-oberösterreichische-Erzählerstimme.
In seinem letzten Fall wird Brenner konsequenterweise von der Vergangenheit
eingeholt, quasi seinem ersten Fall als junger Beamter und Krimineller.
Mehr als in den anderen Brenner-Romanen wirkt das an den Haaren herbeigezogen,
aber die Handlung ist hier sowieso das wenigste. So wie Walter Benjamin
auf die Sprache an sich abzielt, geht es Wolf Haas nach
eigener Aussage um "das Erzählen an sich". Das ist
aber nicht kopflastig, sondern von einer hintersinnigen Komik –
bodenständig auf Seiten des den Leser duzenden Erzählers, experimentell
auf Seiten des Autors. Manchen nervt's, die meisten beglückt es.
Caetano Veloso, Circuladô Vivo
(1992)
Caetano Velosos lange Karriere ist von ungewöhnlich zahlreichen,
qualitativ hochwertigen Live-Aufnahmen geprägt. Das sehr durchmischte
Repertoire von Circuladô Vivo
deckt sich nur wenig mit dem vorangegangenen Circuladô-Album.
Selbst die Songs, die sich auf beiden Alben finden, variieren die Original-Arrangements
genug, um jeglichen Gedanken an Playback oder auch nur musikalische Routine
zum Backstage-Witz zu machen.
Unterstützt von einer brillanten Band, in der neben den Perkussionsinstrumenten
Jaques Morelenbaums Cello den Ton angibt, zieht Caetano hier alle Register
seines Könnens, von eigenen Balladen über Bossa-Nova-Klassiker
zur Cover-Version von Dylans "Jokerman", von einer Gardel-Nummer
(zurück) zum frappierenden, frühen Höhepunkt des Albums:
Michael Jacksons "Black or White" beginnt fast einschmeichelnd,
um nach kaum einer Minute in den gitarrengetriebenen, bald harten, bald
zärtlichen Sprechgesang von "Americanos" zu münden.
Dessen vor Aktualität berstender Telegrammstil erinnert an einen
nicht-existenten Journalismus, der Zeugnis geben könnte von einem
Kontinent der Diversität.
September 2004
Santiago Gamboa, Das
glückliche Leben des jungen Esteban
(übersetzt von Stefanie Gerhold, Wagenbach 2002)
Leichtfüßige Spätsommerlektüre: Esteban, in Paris
schreibendes Alter Ego des Autors, berichtet von einer kolumbianischen
Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren, die sich dann zunehmend
nach Europa verlagert. Vor allem über eine Reihe von Nebenfiguren
wird auch die Geschichte seines Landes greifbar: Da sind das Hausmädchen
Delia und der von ihr verehrte, in sie verliebte Pfarrer Blas Gerardo,
ein nach verlorenem Bürgerkrieg emigrierter Spanier; da ist der fleißige
Toño, der Delia ebenfalls liebt und sich, als sie dem Priester
den Vorzug gibt, der Guerilla anschließt; da freundet sich Esteban
mit dem schüchternen Ismael an, dessen Vater im Gefängnis sitzt
und dessen Mutter trinkt, und Onkel Mario bringt seinen selbstmordgefährdeten
Freund Federico ins Haus der Eltern, wo über Politik und Kunst diskutiert
wird. Fließend, fast im Plauderton verflicht Gamboa die Ebenen,
mischt Erlebtes und die Erzählungen von anderen. Dezenter Humor,
genaues Beobachten und Rekonstruieren, kein Verklären des Vergangenen,
das sind die Geheimnisse dieses Glücklichen
Lebens.
Wax Poetic, Nublu Sessions
(2004)
Als Norah Jones neunzehnjährig nach New York kommt, wird sie bald
Teil einer losen Formation um den Saxophonisten und Barbesitzer Ilhan
Ersahin. Dann zündet ihre merkwürdig selbstverständliche
Solokarriere: Die Songs vom Debütalbum Come
Away With Me klingen schon heute wie Klassiker. Starallüren
lassen auf sich warten, und so ist die junge Sängerin auch auf der
neuen CD von Ersahins Projekt "Wax Poetic" mit von der Party:
die Stimme unverkennbar, der Stil überraschend unklassisch. Nublu
Sessions präsentiert sich als interkultureller Soundtrack
mit zahlreichen Gastauftritten, der von wechselnden Sprachen und musikalischen
Farben lebt. Auf Norah Jones' Eröffnung folgen im zweiten Stück
türkische Vocals mit orientalischer Melodik, dann U-Roys programmatisch
betitelter "Flight in Dub", die Brazilian Girls singen ihr "Homme"
natürlich auf Französisch, bevor mit dem Spoken-Word-Künstler
Saul Williams wieder New York City zu Wort kommt. Von den Arrangements
her trifft elektronische Club-Atmosphäre auf Jazz- und Funk-Elemente
– konzentriertes Hinhören lässt hier nicht etwa Langeweile
aufkommen, sondern steigert den Genuss.
August,
Sommerpause:
Lest die Textur von Hängematten, lauscht Eiswürfeln und Wasserfall
–
:-)
Juli 2004
Javier Cercas,
Soldaten von Salamis
(übersetzt von Willi Zurbrüggen, Berlin Verlag 2002)
Selten war die Rede vom "einhelligen Lob" der Kritik so zutreffend
wie im Fall von Javier Cercas' Erfolgsroman Soldaten
von Salamis – und das nicht nur in Spanien. Ein Erzähler,
der sich Javier Cercas nennt, schildert in Form und Gestus des Tatsachenberichts,
wie er eine Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg rekonstruiert
und daraus ein Buch zu machen versucht. Teil 1 des Romans enthält
erste Recherchen zum Schicksal des falangistischen Ideologen Rafael Sánchez
Mazas, der in den letzten Kriegstagen seiner Erschießung entkommt
und den ein unbekannter republikanischer Soldat laufen lässt. Teil
2 erzählt diese Episode en detail.
Im dritten Teil des Buches verfolgt "Cercas" die Spur eines
Mannes, der vielleicht jener republikanische Soldat war; tatsächlich
sucht er dabei wohl nach einer im tiefsten Sinne poetisch-narrativen Gerechtigkeit,
die die Geschichte von Siegern und Besiegten zu einem Ausgleich bringt.
Neben der handwerklichen Qualität von Cercas' Text gründet sein
überwältigender Erfolg vielleicht auf der Einlösung eben
dieses moralischen Anspruchs, auf dem sinnstiftenden Einbezug vergangener
Geschichte in die Gegenwart von Erzähler und Publikum.
Vinícius Cantuária, Horse
and Fish
Man könnte lange lamentieren: darüber, dass Cantuárias
frühjährliche Europa-Tournee Süddeutschland zur tiefsten
Provinz degradiert hat (Konzerte in Paris, Berlin, Amsterdam, im französischen
Noisiel sowie in Dortmund); darüber, dass auch diese halben Gelegenheiten
schon vorbei sind; darüber, dass man sich Horse
and Fish gekauft hat und nicht das Live-Album von letztem Jahr,
das man allerdings auch erst einmal finden müsste, hier in der Provinz.
Man kann sich aber auch so über Horse and Fish freuen, dass
man es sofort empfehlen muss, obwohl man doch so schön am lamentieren
war, und in dem Fall bleibt nur noch rasch zu erklären, worum es
hier geht: nämlich um hochdifferenzierte, dem Jazz nahe und jeglichem
Easy Listening ferne Bossa, eine Musik, die sich Zeit und Raum lässt,
wie es einst Miles Davis tat. Vinícius Cantuária ist einer
der Giganten, die man vom Alten Kontinent aus nicht in Lebensgröße
sieht – während sich die New Yorker Avantgarde-Szene längst
darum reißt, mit diesem Meister des Understatements zu spielen.
"Manche Leute fragen sich, wie ich in solche Projekte passe",
sagt Cantuária. "Für mich ist das etwas ganz Einfaches,
Natürliches. Ich betrachte mich nicht als einen reinen Bossa-Nova-Musiker.
Ich suche nach den selben Dingen wie [meine New Yorker Kollegen]. Zwischen
meinem traditionellen brasilianischen Stil und dem Avantgarde-Groove besteht
für mich kein Widerspruch. Das macht meine Arbeit aus – der
Versuch, die alte Atmosphäre in das Neue und Moderne herüberzuretten,
die Vergangenheit und das Jetzt zu verbinden." (zitiert in Michael
Hills schöner Rezension
des neuen Albums)
Juni 2004
Enrique Vila-Matas, Bartleby &
Co.
(übersetzt von Petra Strien, Nagel & Kimche 2001)
Essay im Romanpelz oder Minimal-Roman, dessen Skelett sich hyperpostmodern
mit fremdem Fleisch auskleidet? Vila-Matas' buckliger Erzähler Marcelo,
in jungen Jahren Verfasser einer Erzählung über die Unmöglichkeit
der Liebe, wendet sich nach einem Vierteljahrhundert (literarischen) Schweigens
einem neuen Thema zu: der schier endlosen Reihe seiner Vorläufer
in der Schreibverweigerung. Illustre Namen wie Rimbaud, Salinger oder
Hofmannsthal wechseln sich in 86 meist kurzen Kapiteln mit Randfiguren
der "Literatur des Nein" ab, exzentrischen Gestalten im Zeichen
des "Bartleby-Syndroms". Das ist eher erheiternd als deprimierend,
kein Wunder, wird doch auch die Unmöglichkeit des Schreibens unweigerlich
zu Literatur. Der Erzähler kompiliert und kommentiert seine Beispiele
ohne nachhaltige analytische Ambitionen, dafür mit einem thersiteshaften
Blick von unten herauf, ein Antiheld, wie er im Buch steht.
Zélia Duncan, Sortimento
vivo
Cantautor – Liedermacher, ein
schwieriges Wortpaar: Der deutsche Begriff ist schwer von einer gewissen
Patina zu befreien und wird darüber hinaus mit einer Art von Einfachheit
assoziiert, bei der die Musik mehr im Schatten der Texte steht als in
ihrem Dienst. Dass sich keine Soundkulissen über die Worte legen,
lässt freilich jede Menge musikalischen Spielraum. Im Übrigen
haben vielen Reisenden und Neugierigen spanische oder lateinamerikanische
cantautores, italienische cantautori
beim Sprach- und Kulturerwerb geholfen: ein wahrer Königsweg, direkt
durchs Ohr ins Herz und Sprachzentrum.
Nach Brasilien führen unzählige solcher Brücken. Zélia
Duncans mit fast männlich tiefer Stimme vorgetragene Balladen sind
eine vielseitige Option, poetisch, hymnisch, mit bluesig-rockigen Ausbrüchen
und der rhythmischen Dichte, die man von diesem (halben) Kontinent erwartet.
"Chicken de frango", eine Hommage an den Maracatú-Papst
Chico Science, transportiert schon im Titel Internationalität; "Catedral"
ist eine portugiesische Version von Tanita Tikarams "Cathedral Song".
Das enthusiastische Publikum im Hintergrund der Liveaufnahmen lässt
nicht vergessen, dass es sich bei alledem um ein Heimspiel handelt, in
dem man kollektiv schwelgt.
Mai 2004
J. M. Coetzee, Mr. Crusoe, Mrs. Barton
und Mr. Foe
(übersetzt von Wulf Teichmann, Hanser 1990)
Klar, der Herr mit dem schwierigen Namen hat den letzten Nobelpreis
gewonnen. Kein Grund, ihn nicht zu lesen. Ein guter Anfang wäre die
Post-Robinsonade Foe von 1986: nicht
lang, dafür vielschichtig, ein anspielungsreicher und von produktiver
Skepsis durchsetzter Text. Susan Barton, welch Zufall, strandet auf der
selben Insel wie Robinson Crusoe. Als Crusoe die Überfahrt nach England
nicht überlebt, sieht sich Mrs. Barton mit dem zungenlosen Freitag
und ihrer Geschichte alleingelassen. In einer Mischung aus finanziellem
und literarischem Ehrgeiz dient sie dem Autor Foe ihre Version der Ereignisse
an, muss freilich feststellen, dass seine Auffassung von einer guten Story
nicht ganz den eigenen Wünschen entspricht. Engagiert und eloquent
konfrontiert sie den Gesprächspartner (und mittelbar den Leser) mit
ihren prä-emanzipierten Ideen.
Postmodern, experimentell, symbolbeladen, dabei präzise in der Darstellung
von Personen und Schauplätzen, lädt Coetzees Roman zu einer
bedächtigen und im besten Sinne müßigen Lektüre ein.
Die Re- oder Dekonstruktion des Robinson-Stoffs ist dabei nur der offensichtlichste
Fingerzeig auf eine fiktionale Welt, in der andere Gesetze gelten als
im zielstrebig gehetzten Alltag – oder in der ähnliche Gesetze
anders phrasiert und verhandelt werden. Wer dagegen geradlinig erzählte
Geschichten schätzt, der ist mit anderen Romanen Coetzees besser
bedient.
Till Brönner, Chattin'
With Chet
Für einen Jazztrompeter, der auch Qualitäten als Sänger
besitzt, führt an Chet Baker kaum ein Weg vorbei. Der international
anerkannte, auch im eigenen Land erfolgreiche Till Brönner verbeugt
sich mit diesem Album aus dem Jahr 2000 vor dem großen Vorbild –
eine Hommage, die sich deutlich von den konservatorisch-konservativen
Bemühungen um den Jazzfundus abhebt, in denen Traditionalisten vom
Schlag eines Wynton Marsalis der Weisheit letzten Schluss zu haben glauben.
Da wird gesampelt und gescratcht, dass es eine Freude ist ("But Not
For Me" – no pun intended);
da werden klassische Balladen wie "When I Fall In Love" zur
Abwechslung ganz klassisch gespielt und gesungen; da liefert der grandiose
Supernatural eine Freestyle-Rap-Version von Cole Porters "Ev'ry Time
We Say Goodbye", bläst wiederum Brönner sein Titelstück
in bester Straight-ahead-Manier. Überhaupt die Eigenkompositionen:
"Have You Met Chet?" ist eine der schönsten, fingerschnippenden
Absagen an Melancholie, die mir in den letzten Jahren begegnet sind.
Trotz der einen oder anderen Flachheit stellt Till Brönner auf Chattin'
With Chet seine Vielseitigkeit in beeindruckend leichter Weise
unter Beweis. Alles in allem ein luftiges Stück Musik, das ausgezeichnet
zur Jahreszeit passt. Fenster auf, Ohren auch!
April 2004
Reiselektüre
Wo ich mich zur Zeit aufhalte, stehen mir keine
deutschen Bücher zur
Verfügung. Wie wäre es also damit, sich einen Reiseführer
für ein beliebiges
lateinamerikanisches Land zu suchen, sagen wir die bewährte Begeisterungsprosa
eines Lonely Planet? Fernweh aufkommen lassen, sich vorstellen, wie exotische
Früchte schmecken, deren Namen man vielleicht zum ersten Mal sieht;
Monumente,
Hauptstädte oder Naturparks in Augenschein nehmen, soweit das aus
der Distanz
möglich ist; im Kopf Postkarten malen. Und von der nächsten
Chance träumen.
Oder müde abwinken, froh, den deutschen Winter halbwegs hinter sich
zu haben...
Carmen Consoli,
Un sorso in più
Italienische Cantautorin, in Italien ein Superstar –"Das letzte
Mal in Rom", sagte "Big Q" Quartulli beim ersten Auftritt
der Consoli in München vor halbleerer Halle, "da waren wir gut
60 000." Am ehesten ist Carmen Consoli hier durch den Titelsong des
Films "L'ultimo bacio" bekannt. Dieser lieblich-sensible erste
Eindruck trügt ein wenig. Frau Consoli und ihre wunderbar eingespielte
Band können viel mehr, spielen rockiger als die meisten ihrer Zunft,
mit einer ungeheuren Dynamik, bald melancholisch, leise, bedächtig,
bald explosiv und laut (z. B. "Confusa e felice"). Sie leistet
sich im Konzert ein Janis-Joplin-Cover; leistet sich Streichinstrumente,
ohne ein Gramm Schmalz zuzulassen; leistet sich auf ihrem neuen Livealbum
zum Abschluss Kylie Minogues "Can't Get You Out Of My Head"
und verleiht dem Stück eine emotionale Tiefe, als wär's von
ihr. "È incredibile com'è forte" – die hat
eine Kraft, das gibt es gar nicht, sagte Freund Vito kopfschüttelnd
beim zweiten Mal in voller (kleinerer) Halle. Danke.
März 2004
Cees Nooteboom, Der Buddha hinter
dem Bretterzaun
(übersetzt von Helga van Beuningen, Suhrkamp 1995)
Cees Nooteboom bedarf wohl kaum einer ausführlichen Präsentation.
Das schmale Bändchen Der Buddha
hinter dem Bretterzaun dagegen ist so
wenig bekannt, dass die deutsche Amazon-Website auf jegliche Rezension
verzichtet. Dem Untertitel nach eine Erzählung, hat das Buch doch
viel von einem (allerdings originell gestalteten) Reisebericht. Der Protagonist
sieht sich mit großer Neugier und Aufmerksamkeit in Bangkok um,
wobei ein überaus eigenwilliges Alter Ego ihn gelegentlich daran
erinnert, dass zum Reisen etwas mehr gehört als Bildung – oder
etwas weniger. "Namen, Namen, Namen. In einem halben Jahr hast du
sie alle vergessen. Dann mußt du alles wieder nachschlagen. Mach
lieber die Augen zu und schau."
Also zieht Nootebooms Reisender das Erinnern ins Jetzt seines Aufenthalts,
erzählt mit weniger Distanz und Ballast als sonst und verteidigt
doch seine gewohnte Wahrnehmung und Reflexion gegen die fernöstlich
angehauchten Anweisungen des 'Anderen'. Bis sich, mit Glück, Fremdes
und Eigenes die Waage halten, Drift und Ziel, Schauen und Einordnen und
Seinlassen.
Lulu Santos, Programa
Der charismatische Gitarrist, Komponist und
Sänger Lulu Santos ist einer der Väter des (international orientierten)
Pop in Brasilien. Zwanzig Jahre nach seinem ersten großen Erfolg
Tempos modernos
zeigt ihn das 2002 erschienene Album Programa
von seinen besten Seiten.
Weit entfernt von der Seichtheit mancher seiner Studioproduktionen, überrascht
vor allem die von Santos' Gitarre dominierte erste Hälfte des Albums
durch Tempo und Dichte. Vom Opener "Do outro mundo" an ist Programa
rhythmisch abwechslungsreich, ansonsten fast sparsam in seinen Mitteln,
unverkennbar Lulu: eingängig, ironisch, aber druckvoller und mit
mehr Biss als üblich – nur offenbar nicht ganz so massenverträglich.
Die Verkaufszahlen blieben jedenfalls hinter den Erwartungen zurück,
und der erfolgsverwöhnte Star äußert sich im Rückblick
enttäuscht bis abfällig über eine Arbeit, die er in ersten
Interviews noch enthusiastisch besprochen hatte. Heute nennt er das Album
"ehrlich" – was mehr sagt und auch mehr wert ist, als
Santos zugeben mag. Emblematisch dafür das abschließende Instrumental
"4 do 5", eine Hommage an den Paralamas-Kopf Herbert Vianna
und zugleich dessen erste Aufnahme nach seinem tragischen Unfall im Jahr
zuvor.
Februar 2004
William Trevor, Tod
im Sommer
(übersetzt von Thomas Gunkel, Krüger 1998)
William Trevor ist ein zeitgenössischer Autor von unspektakulärer
Größe, jenseits von Hype und Modeerscheinungen; fast will ich
sagen, ein zeitloser Erzähler, obwohl ein solches Wort auf der Goldwaage
nicht gut liegt. In Trevors Büchern vermittelt sich etwas Simples
und Seltenes: Mitgefühl.
Eine Frau stirbt plötzlich und hinterlässt den Ehemann, die
Mutter, ein Baby. Man sieht sich vier Kindermädchen an, entscheidet
sich gegen alle vier. Aber eine der Kandidatinnen hat sich ihrerseits
für die Stelle entschieden. Tod
im Sommer handelt von parallelen Welten,
die sich durch ein einleitendes tragisches Ereignis flüchtig berühren
– so flüchtig, wie Menschen und soziale Schichten aneinander
vorbeileben. Erst ein zweiter tragischer Fall macht aus dem beiläufigen
Kontakt eine Begegnung, die kathartisch wirken kann.
Jede von Trevors Figuren lebt in ihrer eigenen Welt. Der Erzähler
bringt uns diese Welten unaufdringlich nahe, konsistent, wie sie für
sich genommen alle sind. Allmählich beginnt man zu ahnen, woran verschiedene
Leben hängen oder was sie niederdrückt. William Trevors Kunst
besteht darin, die Existenz von Außenseitern sichtbar zu machen,
aber auch die Brüche in scheinbar glatten Normalbiographien. Und
sie erinnert an die Chance zum Neubeginn, die jeder teilnehmende Blick
eröffnet.
Isaac
Hayes At Wattstax
Im Jahr 1972 bestritten die Stars des legendären Plattenlabels Stax
einen ganzen Tag des Watts Summer Festivals. Dieses gelegentlich als "schwarzes
Woodstock" bezeichnete Großereignis galt neben der Musik auch
dem Gedenken an eine der ersten so genannten Rassenunruhen der 60er Jahre,
bei der ein Teil des Viertels abgebrannt war. Nebenbei diente es karitativen
Zwecken. Somit bot das Festival zugleich ein Forum für die Musikindustrie
und für die schwarze Bürgerrechtsbewegung.
Am besagten Augusttag hatte sich die Crème de la crème des
Soul im Los Angeles Coliseum versammelt. Hauptattraktion des Wattstax
betitelten Events war Isaac Hayes mit seiner Band "The Movement",
der wie Stax Records selbst auf dem Zenit seiner Laufbahn stand. Die erst
dreißig Jahre später veröffentlichten Aufnahmen enthalten
neben einigen Längen hochintensive Momente, so Hayes' Saxophonsolo
in der 17-Minuten-Version von "Ain't No Sunshine", eine gefühlvolle
Fassung von "Never Can Say Goodbye" und selbstverständlich
sein Markenzeichen, die Titelmelodie des Blaxploitation-Klassikers Shaft.
Zwischendrin kommt man in den Genuss einer unfreiwilligen Instrumentalversion
von "Part Time Love" – die Tonspur mit Hayes' Gesang war
nicht mehr auffindbar und die Plattenfirma klug genug, auf korrigierende
Eingriffe zu verzichten.
Nicht nur wegen dieser 'Panne' eignet dem Wattstax-Mitschnitt
eine merkwürdige Authentizität. Jesse Jackson höchstpersönlich
hat in Predigermanier den Main Act des Abends angekündigt, um dann
das "Theme from Shaft" mit
seinem "yeah - yeah - yeah" zu begleiten. Eine Rede des Bürgerrechtlers
steht auch am Ende dieser historischen Momentaufnahme, die weit mehr erfasst
als einige Takte unwiderstehlichen Groove.
Januar 2004
Scott McCloud, Comics
richtig lesen
(übersetzt von Heinrich Anders, Carlsen 2001)
Der US-amerikanische Comiczeichner Scott McCloud hat sich in Fachkreisen
längst einen Namen gemacht, als Praktiker wie auch als Theoretiker.
Den Grundstein für sein Renomee legte er 1993 mit Understanding
Comics, einer überaus unterhaltsamen Abhandlung über
Geschichte und Möglichkeiten des Mediums, für das Will Eisner
den Überbegriff "sequentielle Kunst" geprägt hat.
Das Besondere daran: Understanding Comics
ist selbst ein Comic. Mit ein paar simplen Strichen stilisiert sich der
Autor als einfallsreicher und charmanter Reiseführer, der sein Publikum
mit auf Entdeckungstour nimmt. Das ist zunächst pure visuelle Lust,
dann wird es ganz beiläufig zur intellektuellen Herausforderung,
die verblüfft, erfreut und inspiriert.
Die deutsche Übersetzung Comics richtig
lesen (Carlsen 2001) hätte vielleicht einen Titel verdient,
der den Zeigefinger unten lässt – den Lesegenuss schmälert
sie in keiner Weise. Indem McClouds Standardwerk die ureigenen Mittel
seines Gegenstandes nützt, werden die Eigenheiten der "neunten
Kunst" buchstäblich sichtbar.
Marcos Valle, Contrasts
Wie das mit Namen so ist: Marcos Valle dürfte bei uns nur eingefleischten
Bossa-Nova-Fans etwas sagen, und noch die Titel "Samba de verão"
oder "Summer Samba" sind für viele wohl brasilianische
Dörfer. Dagegen die Melodie und das "so nice – it could
be so nice": Ohrwurm oder jedenfalls schon mal gehört. Jetzt
ist Marcos Valle, Komponist und Musiker der zweiten Bossa-Generation,
in den 60er Jahren international erfolgreich, wieder da, ein junggebliebener
Altmeister. Sein drittes Album für das Londoner Label Far Out heißt
Contrasts: elf Songs und drei Remixes,
auf denen sanfte Kontraste überwiegen, ein dichtes und doch luftiges
Gewebe. Bewährte, elektronisch aufbereitete Rhythmen kommen schneller
daher als Valles Klassiker und bleiben dabei ungemein entspannt –
etwas zum Überwintern.
(Für die, die es lieber traditionell mögen: Samba
'68 enthält einige der frühen Hits, großenteils
in englischen Versionen. Die mit Liebe zum Detail produzierte Edition
– inklusive Originalcover und Liner Notes – erreicht fast
den Charme einer Vinylplatte.)
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